Der weibliche Orgasmus

Ist der sexuelle Höhepunkt für Sie ein selbstverständliches Erlebnis oder haben Sie persönlich keine Ahnung, wovon da eigentlich geschwärmt wird? Glücklich erlebt, sehnlich angestrebt oder schmerzlich vermisst – für jede Frau ist „das große O“ in der einen oder anderen Art ein Thema.  

Was ist ein Orgasmus? Einfach formuliert: Ein sexuelles Erlebnis, das äußerst guttut. Wenn Sie den Film „Harry und Sally“ gesehen haben, wissen Sie genau, was gemeint ist. Nüchtern medizinisch betrachtet laufen dabei folgende Reaktionen ab: Bei Erregung fließt Blut in den Genitalbereich und sorgt dafür, dass Klitoris, Vagina und Anus anschwellen. Der Scheideneingang wird enger, das Scheideninnere größer, die kleinen Schamlippen verdicken sich, die Brustwarzen werden hart, die Brüste schwellen an. Aber interessiert das in diesem Zusammenhang wirklich jemanden? Netter klingt da schon eine Definition, die ich einmal irgendwo gelesen habe: „Ein paar herrliche Sekunden von Muskelkontraktionen, in denen die ganze aufstaute sexuelle Energie wieder ins Universum entlassen wird, wie Dampf aus einem pfeifenden Teekessel.“ Allerdings ist es eine bedauerliche Tatsache, dass besagter Dampf keineswegs aus jedem Kessel entweicht. Manche Frauen haben damit überhaupt kein Problem, andere plagen sich bis zum echten Stress oder wissen überhaupt nicht, wie „er“ sich anfühlt. Gründe dafür können in der persönlichen Geschichte liegen, mit der Partnerschaft zu tun haben oder auf tiefe Ängste hinweisen.  Möglicherweise ist auch einer der vielen „Orgasmus-Mythen“ mitverantwortlich dafür, dass Frauen so unter Druck geraten, dass gar nichts geht. Welche teils falschen oder überholten Vorstellungen über den Orgasmus können nun verhindern, dass jede einzelne von uns die Geschehnisse einfach nur genießt?

Orgasmus-Mythen

„Nur wenn beide Partner gleichzeitig kommen, ist ein Orgasmus schön.“

Glauben Sie das bloß nicht. Das klingt zwar sehr exstatisch, geschieht aber äußerst selten. Als die beiden amerikanischen Sex-Expertinnen Emma Taylor und Loreley Sharkey gefragt wurden, wie man es denn anstellen könne, dass der Orgasmus gleichzeitig stattfindet, antworteten sie: „Wir haben keine Ahnung.“ Machen Sie sich also diesbezüglich keinen Stress, sondern finden Sie nur heraus, wie Sie selbst zum Höhepunkt kommen können. Auch ein Nacheinander ist völlig in Ordnung, wobei sich „Lady first“ meist als die bessere Variante erweist. 

 „,Reife‘ Frauen haben einen vaginalen, ,unreife‘ nur einen klitoralen Orgasmus.“

Dieser Ausspruch stammt von dem guten alten Psychiater und Psychoanalytiker Prof. Dr. Sigmund Freud und beherrschte viele Jahrzehnte die Meinungsbildung rund um den weiblichen Höhepunkt. Freuds Verdienst war zweifellos, dass er das Thema Sexualität aus einem Dornröschenschlaf geholt hat. So war es nach Jahrhunderten der Tabuisierung möglich, offener darüber zu sprechen. Aber seine Lehre hat viele Frauen auch sehr verstört. Tatsache ist, dass Orgasmen bei den allermeisten Frauen immer über die Klitoris ausgelöst werden – entweder durch direkte Stimulation vor oder während des Verkehrs oder aufgrund anatomischer Gegebenheiten, durch die der Penis bei seinen Bewegungen auch die Klitoris reizt. Für alle, die auch heute noch nicht über dieses eigentliche Lustzentrum der Frau Bescheid wissen: Die Klitoris ist das einzige Organ des menschlichen Körpers, das ausschließlich für sexuelle Empfindungen dient. Sie besteht aus Nervengewebe, das sich über den ganzen Genitalbereich erstreckt. Für den Höhepunkt ist also in erster Linie das kleine Knöpfchen am oberen Ende der Scheide zuständig. In ihm befinden sich bis zu achttausend Nerven Enden, die bei geeignetem(!) Umgang dafür sorgen, dass die lustvolle Post abgehen kann. Welche Behandlung die arme Klitoris offenbar manchmal aushalten muss, wurde einst im Ausspruch von Dr. Bernhard Ludwig in seinem Seminarkabarett „Anleitung zur sexuellen Unzufriedenheit“ deutlich: „Es gab und gibt zwei schreckliche Zeiten für die Frauen: Als die Männer die Klitoris noch nicht entdeckt hatten und danach“. Kleiner Einschub für männliche Leser – oder für die Damen zum Weiterzeigen: Sanft, keine derb gekrümmten Finger, Geschwindigkeit und Druck an die jeweilige Frau anpassen! 

„Der beste Orgasmus ist der über den G-Punkt.“

Was ist dieser geheimnisvolle Punkt, der angeblich alle eventuell vorher empfundenen Wonnen in den Schatten stellen soll? Darunter versteht man einen Bereich, der etwa zwei Zentimeter groß ist und sich in der Tiefe von circa zwei Dritteln des Mittelfingers im Scheideneingang an der vorderen Bauchwand befindet. Bei manchen Frauen führt die Reizung dieser Stelle zu einem starken Orgasmus, andere empfinden die Berührung als äußerst unangenehm. Außerdem ist bis heute nicht geklärt, ob wirklich jede Frau einen G-Punkt hat. Aber der weibliche Orgasmus während eines Geschlechtsverkehrs wird oft mit dem magischen G-Punkt in Zusammenhang gebracht. 

 „Sexualität ist auch ohne Orgasmus schön.“

Natürlich ist auch der Weg das Ziel. Und wer Berührungen in jeder Form genießen kann, hat auf jeden Fall etwas davon. Aber meist wird dieser Ausspruch als „Trost“ von Männern verwendet. Oder – noch trauriger – Frauen geben aus Unwissenheit oder um zu entsprechen diese Meinung selbst von sich. Achtung, Mädels: Das ist einfach nicht wahr! Wenn sexuelle Spannung aufgebaut wird, ist es nur logisch, dass sie auch wieder abgebaut werden sollte. Und dabei ist der Orgasmus ein  entspannendes, wohltuendes Gefühl. Wenn er immer wieder nicht stattfindet, erzeugt das Frustration, Unmut und Groll. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden von den Männern verlangen, Sex mit uns zu haben, ohne dass sie zum Höhepunkt kommen. Machen Sie den Test und achten Sie auf die Reaktion.

„Wer keinen multiplen Orgasmen hat, ist frigid.“

Multipler Orgasmus bedeutet, dass frau nach dem ersten Höhepunkt noch weitere haben kann, ohne dass die Erregung wesentlich abnimmt. Die Sexualforscher William Masters und Virginia Johnson berichten auch vom „ausgedehnten Megaorgasmus – einem mythischen Monster, das sein brüllendes Haupt von ,nur‘ zehn Minuten bis zu einer vollen Stunde erheben kann.“ Skeptiker zweifeln allerdings die tatsächliche Existenz dieses Ungeheuers – nicht ganz zu Unrecht – an. Auf jeden Fall sind solche Beschreibungen sehr gut dazu geeignet, bei Frauen Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle auszulösen. Es gibt multiple Orgasmen, aber sie sind keinesfalls die Norm. Und mit Frigidität hat ihr Ausbleiben schon gar nichts zu tun.

Der persönliche Weg zum Orgasmus

1. Entspannen Sie sich!

Was auch immer die Ursache für Ihre bisherigen Schwierigkeiten ist – Druck und Anspannung machen alles noch komplizierter und führen nicht selten zur totalen Lustlosigkeit. 

2. Streicheln Sie sich selbst

Sie können so am ehesten herausfinden, wie Ihnen was guttut und es schaut auch (zunächst) keiner zu. Verwenden Sie dabei alles, was Ihre Lust steigern könnte: pornografische Literatur, Bilder, Filme, Vibratoren je nach Vorliebe für Klitoris, Scheide und After (unter Umständen auch für alle drei). Eine besondere Rolle spielt die Phantasie. Die meisten von uns haben innere Bilder, die erregend wirken. Das können sanfte Szenen sein, aber durchaus auch ein derberes Szenarium, wie Fesselungen oder Dominanz. Vielleicht törnt Sie die Vorstellung an, mit mehreren Männern Sexkontakt zu haben oder Sie sehen sich in einer öffentlichen Situation. Wichtig: Genieren Sie sich nicht für Ihre Phantasien! Niemand muss je erfahren, welche Gedanken Sie haben, aber es kann später durchaus lustvoll sein, Sie dem Partner zu erzählen. Experimentieren Sie!

3. Spüren Sie seelische Blockaden auf

Hemmnisse können sein: nicht verarbeitete Traumata wie sexueller Missbrauch, andere Gewalt-Erfahrungen, lieblose Kindheit, wenig Selbstliebe, Groll gegen den Partner oder „die Männer“ generell, tiefsitzende Ängste

4. Vermitteln Sie dem/Ihrem Mann, was Sie wollen und brauchen

Manchmal kommen Frauen nicht zum Orgasmus, weil sie einfach nicht so stimuliert werden, wie es nötig wäre. Es ist eine Tatsache, dass viele Männer immer noch nicht genug über den weiblichen Körper Bescheid wissen bzw. davon ausgehen, dass alle Frauen gleich „funktionieren“.

Scheuen Sie sich nicht, Ihrem Partner zu sagen oder zu zeigen, was er tun soll. Interessiert er sich dafür überhaupt nicht, ist das ein deutliches Signal, die ganze Beziehung zu hinterfragen.

5. Entwickeln Sie die Einstellung: „Ich verdiene es, in der Sexualität glücklich zu sein“

Auch wenn es zunächst seltsam erscheint – verlassen Sie die Opferrolle und übernehmen Sie für Ihr Wohlbefinden die Verantwortung. Beginnen Sie ab sofort damit, sich selbst in jeder nur möglichen Form zu lieben. Dann wollen Sie automatisch, dass es sowohl Seele als auch Körper gut geht.

Noch ein Wort unter uns Schwestern: Gehen Sie den ehrlichen Weg. Es mag in der einen oder anderen Situation aus verschiedenen Gründen im Moment einfacher sein, einen Orgasmus vorzuspielen. Tun Sie sich das nicht an! Sie werden auf diese Art nur immer unerfüllter und die Frustration steigt.

Lassen Sie sich weder durch einen der Mythen verunsichern noch durch die Aussagen von anderen. Ihr Orgasmus ist ein höchstpersönliches Erlebnis, das Ihnen Freude und Entspannung schenkt.  Klären Sie also das mit der richtigen Stimulation, verarbeiten Sie Blockaden, die aus Ihrer eigenen Geschichte kommen, beachten Sie eventuellen Groll oder Enttäuschung. Und dann lassen Sie los. Das Leben ist zu kurz, um ohne Orgasmus zu existieren. 

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