“Ein Hype kommt und geht, das Kneippen aber – seit 2020 auch in Österreich auf der Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO – ist zeitlos modern – wenn auch nicht immer unumstritten.“ Dipl.-BW Friedrich Kaindlstorfer MBA, Geschäftsführer der Marienschwestern GmbH und Betriebsleiter im Curhaus Bad Kreuzen, dem 1. Zentrum für Traditionelle Europäische Medizin (TEM), weiß, wovon er spricht. Die Marienschwestern schwören seit mehr als 110 Jahren auf die Wirkung von Wasser und Kneipp. Wir haben den Tourismusexperten zum Stellenwert der Kneipp-Anwendungen im Gesundheitstourismus interviewt.
Welche Rolle spielen die Kneipp-Anwendungen in der TEM?
„Das Heilen mit Wasser prägt die Geschichte von Bad Kreuzen und Bad Mühllacken, wo unsere Curhäuser stehen. Die Marienschwestern sind von der Wirkung der Wasseranwendungen überzeugt, manche Schwester absolvierte noch zu Kneipps Lebzeit die Bademeisterausbildung beim Pfarrer selbst in Wörishofen. Wir haben dann begonnen, gemeinsam mit Historikern und Wissenschaftern die Medizin unserer Vorfahren zu beforschen. Unsere gesamte Belegschaft ist in der TEM geschult und seit 2012 liegt in unseren Häusern der Schwerpunkt auf dieser Erfahrungsmedizin. Darin sind wir Pioniere, entwickeln uns stetig weiter und verbinden moderne Schulmedizin mit dem traditionellen Wissen. DIE Hauptstütze in der TEM ist die Kneipp-Philosophie mit den fünf Gesundheitssäulen. Neben Kneipp sind Namen und Wissen etwa von Paracelsus und Hildegard von Bingen untrennbar mit der TEM verbunden.
Welche Kriterien prägen das Urlaubsverhalten der Gäste im Gesundheitstourismus?
Das Verhalten spiegelt sozialen und finanziellen Wohlstand, Werte, Bewusstsein, Lebenszufriedenheit, Bedürfnisse etc. wider. Die Ansprüche an Atmosphäre und Ambiente, Service, Genuss und Lebensqualität stehen generationenübergreifend im Zentrum der Konsuminteressen. Wir leben in einer unruhigen Zeit der Veränderung. Der Gesundheitstourismus wurde vor allem von der Babyboomer-Generation geprägt, langsam müssen sich die Betriebe auf die Vorlieben der nächsten Generation einstellen. Eines ist sicher: Der Kunde will für sein Geld Qualität sehen. Gekurt wird eher kürzer, dafür vielleicht zweimal jährlich. Authentische Konzepte mit Seele sind stark nachgefragt. Man kann bei den Wünschen nicht mehr nur nach dem Aspekt „Alter“ gehen, ein guter Teil der Babyboomer fühlt sich im Schnitt um 10 bis 15 Jahre jünger und sucht Urlaube, die Motive wie physische und mentale Fitness, Vitalität, Aktivität, Naturerlebnis und nachhaltig gesunden Lebensstil befriedigen. Die Neugier auf neue Methoden und Mittel zum Wohlfühlen ist groß, die Kaufkraft meist vorhanden. Mit diesen Bedingungen muss der Gesundheitstourismus bestmöglich arbeiten.
Der Wunsch nach Nachhaltigkeit, Regionalität, Umweltschutz wächst, spürt man das auch in Ihrer Branche?
Die Corona-Krise riss uns aus der Komfortzone und zeigte manchem auf, dass er sein Glück nicht bei „immer mehr, immer schneller, immer besser, immer mehr High-Tech“ findet. Das veränderte Wertebewusstsein brachte eine (Rück-)Besinnung auf das Ursprüngliche und Regionale von den Lebensmitteln bis zu den Spa-Produkten. Pro-Aging, Selbstoptimierung und Medical Wellness bleiben im Trend, der Wunsch nach alternativen Methoden und Naturheilkunde, die ergänzend zur Schulmedizin eingesetzt werden, steigt. Bei der Ganzheitlichkeit kann die Kneipp-Therapie mit ihren 5 Säulen, der Hydrotherapie, Ernährung, Phytotherapie nach der Signaturenlehre, der Bewegung und ausgewogenen Lebensordnung/Lebensstil, voll punkten. Die Body-Mind-Orientierung hat sich mit Corona vielleicht noch verstärkt. Konzepte, die darauf basieren, dass Körper, Geist und Seele eine Einheit sind und ihr Zusammenspiel das Wohlergehen beeinflussen, sind „Kaiser“.
Können Sie kurz beschreiben, was das Besondere an der TEM mit Kneipp als Fixpunkt ist?
Ziel im 1. Zentrum für TEM in Bad Kreuzen und dem Spirituellen Gesundheitszentrum in Bad Mühllacken ist, jeden Gast in seiner Einzigartigkeit nach den vier Archetypen, genannt Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker, wahrzunehmen und zu betreuen. Anlagen, individuelle Konstitution und momentane Gestimmtheit stehen in Zusammenschau mit Lebensphase und Umwelt im Fokus. Die TEM regt die Selbstheilung und -regeneration an, hilft bei der Prävention, Entspannung, Linderung diverser Beschwerden und Folgen von Stress, stärkt Immunsystem, Stoffwechsel und Organsysteme. Viele suchen einfach eine Auszeit vom Alltag, wollen in reizvoller Natur auftanken und ihre Balance wiederfinden. Auch im Bereich Fasten, Detox und heilsamer Ernährung kann die TEM viel Gutes leisten – vor allem das Curhaus in Bad Mühllacken ist diesbezüglich hochgeschätzt. Durch die personalisierten Angebote mit der TEM sprechen wir auch junge Menschen an. Von der Kost über Massageöle bis zu Bewegungsübungen wird alles auf den Archetyp abgestimmt. Auch TEM-Spezialbehandlungen, wie etwa die Reflexologie, ergänzen das Kneippen optimal.
Jüngere Menschen kennen Kneipp vielleicht kaum oder finden die Hydrotherapie als „gestrig“ und nur für Kranke und Alte sinnvoll. Können Sie das bestätigen?
Wir sehen besonders bei jüngeren Gästen, die Kneipp nur mit kalten Güssen assoziieren, dass sie nicht begeistert sind, wenn sie Wasseranwendungen verschrieben bekommen. Die Einstellung ändert sich schnell, wenn sie die Wirkung spüren und erfahren, dass 80 % der Anwendungen mit warmem Wasser durchgeführt werden. Es ist Aufgabe des Kneipp-Arztes bzw. der Kneipp-Ärztin, die passende Anwendung für jeden Menschen zu finden. Dann fühlen sich auch Gesunde von der Hydrotherapie belebt, entstresst und rundum gestärkt.
Glauben Sie, dass das Kneippen weiterhin viel Zuspruch erleben und vielleicht noch an Beliebtheit zulegen kann?
In unseren Häusern ist und bleibt die Hydrotherapie der Joker, um den Menschen immunstark und gesund zu erhalten. Die Tradition des Kneippens sehe ich nicht gefährdet, wenn es die Betriebe schaffen, ihr Angebot an veränderte Bedürfnisse der Zielgruppen anzupassen und das Kneippen modern zu präsentieren, vor allem auch in Verbindung mit Aktivität und Erholung in der Natur. Für die Branche heißt es nach Aristoteles: „Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel richtig setzen.“
Dipl.-BW Friedrich Kaindlstorfer MBA ist Geschäftsführer der Marienschwestern GmbH und Betriebsleiter im Curhaus Bad Kreuzen, dem 1. Zentrum für Traditionelle Europäische Medizin (TEM).
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