Wer sich für Nährstoffquellen interessiert, die ökologisch nachhaltig sind, saisonal und regional, und die sich durch eine überdurchschnittliche Nährstoffdichte auszeichnen, kommt an heimischen Wildpflanzen eigentlich nicht vorbei. Unsere jagenden und sammelnden Vorfahren in der Steinzeit haben, neben Wildtieren, ausschließlich von Wildkräutern, -früchten und -pilzen gelebt. Das einzige Manko war, dass sie nur wenig Kalorien liefern – eine Tatsache, die in unserer Zeit jedoch kaum als Nachteil betrachtet werden kann.
Wilde Kostbarkeiten
Alle essbaren Wildpflanzen werden gemeinhin als Wildkräuter bezeichnet, auch wenn verholzende Pflanzen (Bäume, Sträucher) und deren Früchte genau genommen nicht dazu zählen. Gemeint ist alles Nicht-Tierische, das ohne menschliches Zutun nicht nur überlebt, sondern sich auch vermehren kann. In der Vorsilbe „wild“ steckt außerdem der Charakter dieser geschenkten Kostbarkeiten: Sie sind so widerstandsfähig, dass sie ohne menschliche Unterstützung in freier Wildbahn bestehen können. Der Grund für diese Robustheit liegt in ihrer Zusammensetzung.
Innere Werte
Hitze, Frost, Hagel, Staunässe, Dürre und Tierfraß gehören zum Alltag in freier Wildbahn. Diesen Stressoren hält die Pflanze bioaktive Substanzen entgegen, die wir auch als sekundäre Pflanzenstoffe bezeichnen. Sie sind Teil des pflanzlichen Immunsystems. Wildwachsende Pflanzen sind ganz besonders auf diese vielfältigen Substanzen angewiesen. Einige Beispiele:
✓ Scharf- und Bitterstoffe, Triterpene und ätherische Öle als Fraßschutz
✓ Gerbstoffe gegen Schimmelpilze und Bakterien
✓ Pflanzenschleime als Austrocknungsschutz und zur Abdichtung von geschädigtem Gewebe
✓ Antioxidantien als Puffer bei hoher UV-Belastung bzw. oxidativem Stress
Wichtige Aufgaben
Fast alle sind an der Regulierung der Zellteilung, also der Krebs-Prophylaxe, beteiligt. Viele sekundäre Pflanzenstoffe dienen weiters als Kommunikationsmittel, etwa die duftenden ätherischen Öle und die bunten Farbpigmente. Sie schützen die Pflanze nicht vor Gefahren, sondern sind Signale an andere Pflanzen oder auch an Tiere (etwa Duft und Farbe der Blüte an die Biene). All diese Stoffe erfüllen auch im menschlichen Organismus wichtige Aufgaben. Jenseits der sekundären Substanzen enthalten Wildkräuter reichlich Ballast- und Faserstoffe, die für mechanische Zähigkeit sorgen. Sie selbst sind zwar nicht bioaktiv, erfüllen aber in unserem Darm vielfältige unverzichtbare Aufgaben. Auch wenn es empfehlenswert ist, nährstoffreiche Lebensmittel zu bevorzugen, ist es nicht nötig, sie in großer Menge zu verzehren. Eine Handvoll wild gewachsener Kräuter pro Tag ist eine hervorragende Bereicherung der Standardkost.
Der widerspenstigen Zähmung
Den meisten Kulturpflanzen hingegen mangelt es an all den genannten „Gesunderhaltern“. Einzig Wasser und Zucker bzw. Stärke sind vermehrt enthalten. Wohlgemerkt: Auch gezüchtetes Obst und Gemüse ist kostbar. Wir brauchen zum Leben auch Kalorien, und in vielen Fällen sind bestimmte Substanzen in ausreichendem Maße enthalten. Doch etliche sekundäre Pflanzenstoffe wurden aus Kulturpflanzen „herausgezüchtet“, insbesondere Ballaststoffe und Bitterstoffe. Wer will schon fasrige Fisolen und bittere Gurken? Oder Weintrauben mit vielen Kernen? Vor allem, wenn OPC (Antioxidantien, häufig aus Weintrauben-Kernen gewonnen) als Pulver erhältlich ist, das als kostbares Superfood angepriesen wird …
Entsprechend ihrer Zusammensetzung schmecken Wildpflanzen deutlich strenger als alles, was es im Supermarkt zu kaufen gibt. Sie sind herber, fasrig und manchmal kratzig. Sie zeichnen sich durch ausgeprägte Aromen aus, die nicht so mild und rund sind wie wir es gewöhnt sind. Doch es gibt Hoffnung: Der „Naturgeschmack“ lässt sich trainieren! In kleinen Mengen unter die gewohnten Mahlzeiten gerührt, werden diese mit Pflanzenstoffen angereichert, ohne dass der vertraute Geschmack merklich verändert wäre. Oder man beginnt mit milden „Einsteigerkräutern“, wie z. B. Vogelmiere. So kann sich der ungeübte Gaumen nach und nach umgewöhnen.
Kräutersammeln macht gesund
Das Sammeln wildwachsender Pflanzen ist eine uralte Fähigkeit, die nun schon seit mehreren Generationen eher brach liegt. Jene Menschen jedoch, die regelmäßig Kräuter sammeln, beschreiben einen tiefgreifenden Erholungseffekt: Die Kombination aus frischer Luft, moderater Bewegung und vielschichtigen Sinneseindrücken hat nachweislich therapeutische Wirkung auf Geist und Psyche. Schon der grünen Farbe wird eine harmonisierende, beruhigende und belebende Wirkung zugesprochen. Der Effekt des Shinrin-Yoku, des japanischen „Waldbadens“, wird vor allem durch Pilz- und Pflanzenstoffe erklärt, die im Wald von allen Oberflächen an die Luft abgegeben werden, von den Blättern, der Rinde, dem Erdboden selbst.
Weiters wird durch die vielen kleinen verschiedenen Handgriffe beim Sammeln die Feinmotorik gefordert. Und sogar das Koordinationstraining durch das Gehen auf holprigen Wegen darf nicht unterschätzt werden! Wer die asphaltierten und anderweitig begradigten Wege jahrzehntelang nicht verlässt, darf sich im Alter nicht über Hinfälligkeit wundern. Die Füße und den ganzen Bewegungsapparat durch die Bewegung auf organisch gewachsenen Böden lebendig, wendig und reaktiv zu halten, ist quasi der Königsweg aller Vorbeugungsmaßnahmen.
…und glücklich
Ähnlich einem Jagdfieber kann man beim Kräutersammeln von einer Art Sammelfieber erfasst werden. Selbst nach weniger erfolgreichen Sammeltouren, beispielsweise im zeitigen Frühling oder sogar im Winter, wo man vielleicht überrascht ist, überhaupt etwas zu finden, machen sich echte Glücksgefühle breit. Kostenlos und oft unverhofft etwas zu finden, das herrlich schmeckt oder gar so manche Beschwerden lindern kann, sorgt für (mehr) Wohlbefinden und macht dankbar. Und Dankbarkeit ist schließlich der größte „Glücklichmacher“ überhaupt.
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