Das kindliche Gehirn hat täglich viel zu verarbeiten. Gibt es ein Mindestalter, ab dem Kinder generell Medien konsumieren dürfen?
Kinder dürfen grundsätzlich Medien konsumieren, sobald ihre Eltern es erlauben – doch ab wann es sinnvoll und altersgerecht ist, ist eine andere Frage. Die WHO hat auf Basis etlicher Studien klare Empfehlungen zum Medienkonsum bei Kindern unter fünf Jahren veröffentlicht – insbesondere in Bezug auf die Bildschirmzeit. Unter 3 Jahren sollte kein aktiver Medienkonsum stattfinden. Kurze Videotelefonate mit Angehörigen können da eine Ausnahme darstellen. Unter 6 Jahren sollte die Medienzeit maximal 30 Minuten pro Tag betragen. Wichtig ist dabei, dass die Inhalte altersgerecht, ruhig, verständlich und werbefrei sind. Auch über 6 Jahren ist eine zeitliche Begrenzung empfohlen: Laut WHO sollten es bis zum 14. Lebensjahr maximal 60 Minuten täglich sein.
Trotz der WHO-Empfehlung setzen manche Eltern ihre Kleinkinder bereits sehr früh vor den Fernseher oder ein Tablet, um ein bisschen Ruhe zu haben. Gibt es da bereits Auswirkungen auf die Hirnentwicklung?
Im allerbesten Fall sollte das bei Kleinkindern überhaupt nicht stattfinden. Besonders bei Kleinkindern und Schulkindern hat ein hoher Medienkonsum enorme Auswirkungen – es kann zu Schlafstörungen, verzögerte kognitiver und sozialer Entwicklung kommen. Darüber hinaus kann das Erlernen motorischer Fähigkeiten, das in diesem Alter enorm wichtig ist, durch zu viel Medienkonsum eingeschränkt sein.
Was passiert, wenn Kinder zu oft vor dem Fernseher sitzen? Gibt es da Auswirkungen z. B. auf die Sprachentwicklung, die Aufmerksamkeitsspanne, soziale Fähigkeiten usw.?

Ja, früher Medienkonsum bei Kleinkindern hat nachweislich Auswirkungen auf die sprachliche und emotionale Entwicklung – besonders wenn er häufig, unbegleitet oder passiv erfolgt. Kinder lernen Sprache durch Dialoge, Mimik und soziale Reaktionen – all das fehlt bei passivem Medienkonsum.
Hohe Mediennutzung im Alter von 1 bis 2 Jahren kann mit verzögertem Sprechenlernen einhergehen: Studien zeigen, dass Kinder mit viel Bildschirmzeit weniger Wörter verstehen und sprechen. Emotionen werden durch reale Beziehungserfahrungen gelernt – Medien können das nicht ersetzen. Weniger echte Interaktion kann zu verringerter emotionaler Bindungsfähigkeit führen. Auch neigen Kinder, die häufig Medien nutzen, teils vermehrt zu Frustration oder Impulsivität, da die frühe Bildschirmzeit oft die Sinne überreizt, aber keine echten Beziehungserfahrungen bietet. Das behindert die Entwicklung emotionaler Regulation und Bindungsfähigkeit.
Gibt es Medien, die Sie als Neurologin Kindern empfehlen würden?
Ja, beispielsweise Kinderlieder und Hörspiele. Sie fördern das Rhythmusgefühl, den Wortschatz und die Aufmerksamkeit. Hinsichtlich digitaler Medien können kurze, ruhige Videos mit klaren Bildern, langsamer Sprache und wenig Reizüberflutung empfohlen werden. Auch interaktive Apps, die einfach, visuell ansprechend und ohne Werbung sind (z. B. Bilderbuch-Apps, Puzzle-Apps), sind in Ordnung. Aber auch hier sollten Rahmenbedingungen geschaffen werden: maximal 20 Minuten am Stück, unter zwei Jahren bestenfalls überhaupt nicht. Und die Nutzung sollte unter Aufsicht der Eltern erfolgen.
Soziale Medien werden dann vermutlich im Teenageralter interessant für Kinder. Worauf sollte man als Elternteil da achten, um das Kind nicht zu gefährden?
Der wichtigste Schutz sind eine vertrauensvolle Beziehung und ein offener Dialog mit den Kindern. Die Altersfreigaben sollten ernst genommen werden. Aus Gründen des Jugendschutzes ist beispielsweise die Plattform TikTok erst ab 13 Jahren erlaubt. Aber auch darüber hinaus sollte der Konsum nur im Beisein der Eltern erfolgen. Ein weiterer Punkt ist, die Medienkompetenz der Kinder zu fördern. Man sollte offen mit den Kindern über Themen wie Datenschutz (Was darf ich teilen? Was nicht?), Privatsphäre (Wer darf meine Inhalte sehen?), Fake News und Werbung (Was ist echt? Was ist manipuliert?) sowie Cybermobbing und den Umgang mit Hasskommentaren sprechen. Einige Apps bieten auch eine „begleitete Nutzung“ an, wodurch die Konsumdauer und Inhalte zum Teil durch die Eltern reguliert werden können.
Die Likes und Reaktionen aktivieren da das Belohnungszentrum im Hirn. Was bedeutet das vor allem für Jugendliche?
Likes lösen die Ausschüttung von Dopamin aus – das ist ein „Glückshormon“, das uns motiviert und ein gutes Gefühl gibt. Jugendliche haben ein besonders empfindliches und aktives Belohnungssystem, sind aber in der Impulskontrolle – gesteuert durch den präfrontaler Kortex, welcher sich erst im jungen Erwachsenenalter vollständig ausbildet – noch nicht voll entwickelt. Das Ergebnis: Schnelle Belohnung wird stark bevorzugt, während langfristige Konsequenzen schwerer abzuwägen sind. Dies führt leicht zu einem suchtartigen Nutzungsverhalten, der Jagd nach ständigem Scrollen, Posten und Checken sowie leider auch zur Abhängigkeit von Anerkennung durch andere Personen. Der Umkehrschluss: Wenn ein Beitrag weniger Likes bekommt als erhofft, kann das zu Zweifeln am Selbstwert führen. Ein weiterer gefährlicher Punkt ist der Vergleich mit „perfekten“ (natürlich stark bearbeiteten und idealisierten) Bildern im Internet. Dies führt oft zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper oder Leben und kann wirklich gefährlich werden, z. B. durch die Entwicklung einer Essstörung. Umso wichtiger sind Aufklärung, Reflexion und Begleitung durch Erwachsene.

Immer wieder hört man, dass Kinder und Jugendliche durch die Medienwelt „asozialer“ und „dümmer“ werden. Ist da etwas dran?
Die pauschale Aussage, dass Kinder und Jugendliche durch soziale Medien „asozialer“ oder „dümmer“ werden, ist nicht haltbar. Aber sie greift reale gesellschaftliche Veränderungen auf, die kritisch betrachtet werden sollten. Jugendliche werden nicht per se „asozial“, aber das Sozialverhalten ändert sich. Face-to-Face-Kompetenzen wie Blickkontakt, Körpersprache oder Konfliktlösung werden weniger trainiert. Es gibt mehr Missverständnisse, weil digitale Kommunikation oft unvollständig oder anonym ist. Cybermobbing, soziale Vergleiche und Ausschluss sind reale Risiken. Viele Jugendliche berichten von digitaler Einsamkeit trotz Vernetzung. Es gibt auch keinen Beleg dafür, dass Jugendliche durch Social Media weniger intelligent werden. Multitasking und Dauerablenkung können aber Konzentration und Tiefenlernen beeinträchtigen. Inhalte in sozialen Medien sind oft schnell, fragmentiert, emotional aufgeladen – das verändert auch die Art, wie Informationen aufgenommen und bewertet werden. Kurz gesagt heißt das: Weniger Langeweile führt zu weniger kreativen Eigenimpulsen. Durch das weniger konzentrierte Lesen bleibt das Verständnis nur oberflächlich. Umso mehr schnelle Reize, umso weniger Frustrationstoleranz gibt es. Zusammenfassend könnte man sagen: Soziale Medien verändern das Sozialverhalten und die kognitive Entwicklung, aber nicht in so vereinfachender Weise wie „dümmer“ oder „asozialer“. Vielmehr entstehen neue Herausforderungen und Chancen, die durch gute Bildung, kritisches Denken und elterliche Begleitung ausgeglichen werden müssen.
Nach so vielen bedenklichen Punkten: Hat der Konsum von Medien und sozialen Medien eigentlich auch positive Auswirkungen auf die Hirnentwicklung?
Ja, die gibt es durchaus. Viele digitale Medien wie z. B. Spiele und interaktive Lern-Apps trainieren schnelles Erfassen und Reagieren, Mustererkennung und Hand-Auge-Koordination. Studien zeigen: Actionspiele können z. B. die visuelle Aufmerksamkeit und räumliche Orientierung verbessern. Videospiele oder kreative Apps fördern logisches Denken, Planung und Ausdauer.
Um noch einige positive Punkte – abseits der Hirnentwicklung – zu nennen: Jugendliche vernetzen sich digital, halten Kontakt über Distanzen hinweg, organisieren Gruppen und Interessen. Soziale Medien können auch die Zugehörigkeit und Identitätsentwicklung fördern, z. B. LGBTQ+-Support oder Klimaaktivismus. Jugendliche üben früh digitale Formen von Kommunikation, Selbstdarstellung und Medienkompetenz, sie lernen Recherche, Selbstvermarktung und digitale Kreativität.
Durch Medien haben Kinder und Jugendliche außerdem Zugang zu Wissen, Meinungen und Erfahrungen aus der ganzen Welt. Sie lernen andere Kulturen, Konflikte und gesellschaftliche Themen kennen und werden – wenn richtig begleitet – in ihrer Empathie und Weltoffenheit gefördert.

Zur Person
Die gebürtige Vorarlbergerin Dr. Lena Weber hat in Innsbruck Medizin studiert und ist derzeit als Assistenzärztin für Neurologie in Feldkirch/Rankweil tätig. Außerdem ist sie Vorsitzende der Jungen Neurologie der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN)