Besonders sensiblen Menschen machen die zahlreichen Krisensituationen schwer zu schaffen. Sie sehen die Kriegsbilder und leiden mit den Menschen in der Ukraine mit. Vor allem bei Älteren, die Krieg oder Flucht noch selbst erlebt haben, können traumatische Erinnerungen reaktiviert werden.
Die jüngere Generation, die sich in Jahrzehnten des Friedens nie direkt mit einer solchen Gefahr auseinandersetzen musste, wird über die Sozialen Medien mit einer Flut von besorgniserregenden Meldungen überschwemmt. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen schlagen sich bei allen auch schmerzhaft in der Geldbörse nieder: Mit einer Inflationsrate von 9,3 Prozent (Stand Juli) ist von der Statistik Austria die höchste Teuerungsrate seit Februar 1975 gemessen worden. Dazu kommen die explodierenden Energiepreise. In einer aktuellen Umfrage des Österreichischen Gallup-Instituts geben bereits 78 Prozent der Befragten an, dass ihre Lebensqualität sehr (27 Prozent) oder etwas (51 Prozent) unter der Teuerung leide. 30 Prozent schränken ihre Ausgaben mittlerweile sehr stark, weitere 54 Prozent etwas ein.
Ein Fünftel führt an, sich als Folge der Teuerung in einer finanziellen Notlage zu befinden. Fast schon beiläufig erscheint da die Pandemie, und bislang kann niemand vorhersagen, wie sich die Zahlen in diesem Herbst und Winter entwickeln werden. Und über all dem schwebt die Klimakrise wie ein Damoklesschwert.
Widerstandskraft aufbauen
Wie gut der einzelne Mensch mit Krisen umgehen kann und wie stabil seine Widerstandskraft ist, hängt von vielen Faktoren ab. „Menschen bringen unterschiedliche Grundvoraussetzungen mit. Jeder wird in eine andere Umwelt hineingeboren und anders erzogen“, sagt der diplomierte Resilienztrainer Karl Allmer aus Wien. Er verweist auf eine der ältesten bekannten Studien zur Resilienz von Emmi Werner und Ruth Smith aus dem Jahr 2008, in der 698 asiatische und polynesische Kinder, die im Jahr 1955 auf der Insel Kauai geboren wurden, über 40 Jahre lang begleitet wurden. Ein Drittel der Probanden lebte mit einer hohen Risikobelastung, wie z. B. chronischer Armut, psychischen Erkrankungen der Eltern oder familiärer Disharmonie. Bei einem Drittel dieser Risikogruppe stellten Werner und Smith fest, dass sie sich – im Gegensatz zu den zwei Dritteln der anderen Kinder – trotz der hohen Risikobelastung gut entwickelten und keine Verhaltensauffälligkeiten zeigten.
Die Gründe dafür waren protektive Faktoren, wie zum Beispiel eine emotionale Bezugsperson, ein stabiler Familienzusammenhalt, eine hohe Schulbildung, hohe Sozialkompetenzen und positive Selbstwirksamkeitserwartungen. Diese Ergebnisse wurden später von weiteren Studien (z. B. Mannheimer Kinderrisikostudie, Bielefelder Invulnerabilitätsstudie) untermauert. Fest steht: Auch dann, wenn die individuellen Umstände eher ungünstig waren und sind, ist es möglich, Resilienz zu lernen und zu trainieren. Die deutsche Diplompsychologin Eva Wlodarek ist davon überzeugt, dass die menschliche Persönlichkeit viel wandelbarer ist, als man früher angenommen hat. In ihrem Youtube-Kanal empfiehlt sie fünf Schritte zur Stärken der seelischen Widerstandsfähigkeit:
1. Die Realität akzeptieren
„Es ist wichtig, dass wir uns klar machen, dass Krisen zum Leben gehören. Ein Leben ohne Krisen gibt es nicht“, sagt die Psychologin. Auch wenn es bei manchen Menschen so aussieht, als hätten sie gar keine Probleme. Der Rat der Expertin: „Akzeptieren Sie, dass Sie gerade in einer Krise sind und etwas erleben, was Sie sich nicht unbedingt gewünscht haben. Das ist eine gute Basis, um weiter zu schauen“.
2. Selbstbewusstsein stärken
Der Philosoph Sören Kiergegaard sagte: “Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden. Im Rückblick erkennt man, dass man die Krise überlebt hat, sonst wäre man ja nicht hier.“ Die Psychologin empfiehlt: „Machen Sie sich in einer ruhigen Stunde eine Liste und schreiben auf: Was habe ich in der Vergangenheit schon alles bewältigt. Da wird eine ganze Menge zusammenkommen. Sie haben gewiss schon Prüfungen bestanden, vielleicht sind Sie Eltern geworden, was auch nicht so ganz einfach ist, oder Sie haben Dinge bewältigt, wo Sie anfänglich dachten, “das schaffe ich nicht“. Wenn man zurückschaut, ist manchmal sogar erkennbar, dass diese Krisen auch etwas Gutes hatten. Wenn Sie an Ihre eigenen Kräfte und Ihre Kompetenz glauben, haben Sie das Gefühl, auch eine gewisse Kontrolle über die Situation zu haben. Sie sind nicht nur das arme Opfer, dem etwas passiert, sondern Sie sind in vielen Fällen in der Lage, etwas verändern zu können.
3. Unterstützung suchen
Vielen fällt es auch heute nach wie vor schwer, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Eva Wlodarek ermutigt dazu, sich bei Bedarf professionelle Unterstützung zu suchen bzw. überhaupt Hilfe anzunehmen. Entweder von Menschen um Sie herum oder eben auch fachliche Beratung. Wlodarek: „Es tut ungeheuer gut, zu merken, dass wir nicht alleine sind“. Ihr spezieller Tipp: „Schreiben Sie ein Tagebuch und sich damit auch den aktuellen Stress von der Seele“. Das lohnt sich nachweislich: Eine Studie der US-Universität Pennsylvania, ergab, dass sich die seelische Befindlichkeit von 50 Tagebuchführenden nach 30 Tagen signifikant verbesserte gegenüber jenen Personen, die das nicht taten.
4. Den Optimismus erhalten
Das bedeutet nicht, mit einer rosaroten Brille herumzulaufen. Optimismus, wie ihn die Expertin definiert, heißt, dass man eine Krise als zeitlich begrenztes Ereignis sieht, das sich nicht fortsetzen muss. Vielmehr handelt es sich um eine aktuelle Herausforderung, die bewältigt werden will, wo aber durchaus die Hoffnung besteht, diese zu überwinden.
5. Entscheidungen treffen
Verlassen Sie die Opferrolle und überlegen Sie sich, was Sie jetzt ganz konkret tun können. Wenn Sie zur inneren Haltung finden, etwas bewirken und verändern zu können, dann öffnen sich meistens auch neue Türen. Werden Sie aktiv und treffen Entscheidungen!
„Auch dann, wenn die individuellen Umstände eher ungünstig waren oder sind, ist es möglich, Resilienz zu lernen und zu trainieren.“
Karl Allmer, Resilienztrainer
Schluss mit “Doomscrolling“
Etliche Studien belegen, dass das Phänomen „Doomscrolling“ oder „Doomsurfing“ – also das exzessive Konsumieren negativer Nachrichten im Internet – negative Folgen auf unsere psychische Gesundheit nach sich zieht. Psychologen empfehlen jungen Menschen und Fans von Facebook, Instagram, Twitter oder Tiktok einen sehr bewussten und reduzierten Umgang mit Social-Media-Plattformen. „Ein paar Minuten ein bis zweimal pro Tag reichen aus, um sich über das Wichtigste zu informieren“, rät die Wiener Psychotherapeutin und Coachin Lisa Tomaschek-Habrina. Letztendlich seien es die immer gleichen Meldungen, die man vorgesetzt bekäme.
„Durch die ständige Wiederholung wirken die Nachrichten oft stärker und schlimmer“, so Tomaschek-Habrina. Deshalb ist es so wichtig, auf seine psychische Gesundheit zu achten. Tomaschek-Habrina rät dabei zur „BEEP“-Methode: Bewegung, Ernährung, Entspannung und Psychohygiene. Beinahe alles davon sei in der Corona-Pandemie vernachlässigt worden, meint die Psychotherapeutin. Durch das Homeoffice bewegten sich die Menschen insgesamt weniger. Die zunehmend fließenden Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben dienen zumeist ebenfalls nicht gerade der Entspannung. Und auch die psychische Hygiene, etwa ein Treffen mit Freunden, ein Museums- oder Konzertbesuch, kam in den vergangenen Jahren bei den meisten häufig viel zu kurz.
Die 4A-Strategie
Resilienz ist ein Prozess, der täglich geübt werden sollte. Resilienztrainer Karl Allmer hat dafür gute Tipps, die hier als die 4A-Strategie dargestellt werden. So lassen sich auch Stresssituationen besser bewältigen.
Anerkennen
„Es gibt Situationen, die kann man sich nicht schönreden und die machen auch wirklich keinen Spaß. Manchmal ist das Glas weder halbvoll noch halbleer, sondern einfach umgefallen.“ Da empfiehlt sich laut Allmer als beste Reaktion, die Situation anzuerkennen, wie sie ist, nämlich ein leeres Glas. Stress entsteht durch zwei Grundgefühle: Wut und/oder Angst. Die Situation anzuerkennen ist der erste Schritt zu mehr Stressresilienz.
Abkühlen
In Stresssituationen sendet der Körper Warnsignale aus – wie z. B. einen erhöhten Puls. Werden diese wahrgenommen, gilt es, sich abzukühlen. Denn die ersten 15 Sekunden unserer Reaktion auf eine Situation sind Reflexe. Wenn z. B. buchstäblich das Wasserglas umfällt, ist die erste Reaktion häufig Wut. Entleert sich das Glas noch über den Laptop, wird vielleicht Angst um die Elektronik dazukommen. Das kann man nicht vermeiden. Doch entscheidend ist die Reaktion danach – und dafür braucht man einen kühlen Kopf. Karl Allmers Rat: Mehrfach tief durchatmen. Mit ruhigem Atmen kann man die Reflexreaktion gut überwinden und damit die Stressresilienz stärken.
Analysieren
Nach der Abkühlphase sollte man sich fragen, ob man die Situation ändern kann oder nicht. An diesem Punkt entscheidet man sich, ob man im Ärger und in der Angst verbleibt oder eben nicht. „Auch wenn es schwerfällt, sich bewusst gegen die Wut und die Angst zu entscheiden, so ist es die sicherste Methode für weniger Stress und mehr Gelassenheit im Leben.“
Aktion/Ablenkung
Hat man in der Analysephase entdeckt, dass man etwas ändern kann, ist es Zeit, in Aktion zu treten. Man wischt also – auch sinnbildlich – einfach das verschüttete Wasser weg und lässt den Ärger gehen. Sollte der Laptop etwas abbekommen haben und man kann daran nichts mehr ändern, ist es sinnvoll, sich vom Ärger abzulenken. In der aktuellen Situation mit den vielfältigen Herausforderungen ist das nicht immer einfach, sich von seinen Ängsten abzulenken. Wichtig ist laut Allmer, die Gedanken in eine positive Richtung zu lenken. „Fragen Sie sich, was Sie heute Schönes erlebt haben und wofür Sie dankbar sind – etwa die Familie, das saubere Wasser. Es geht uns hier vergleichsweise ja noch immer sehr gut“. Gehen Sie also an die frische Luft oder schauen gemeinsam mit Ihren Lieben einen schönen Film an.