Eltern und Schule rücken immer näher zusammen, doch durch die unterschiedlichen Erwartungen und Einstellungen verlaufen die Prozesse meistens nicht reibungslos. Welche Themen Kinder, Eltern und Lehrkräfte heute besonders beschäftigen und wie der Umgang sinnvoll und einigermaßen zufriedenstellend gestaltet werden kann, erörtert Juristin und Expertin für Familienrecht Mag. Valentina Philadelphy-Steiner anhand ihrer langjährigen Erfahrung.
KNEIPP: Mit welchen Konflikten sind Sie in Ihrer Praxis als Mediatorin im Spannungsfeld Schule und Eltern am häufigsten konfrontiert?
VALENTINA PHILADELPHY-STEINER: Die Konflikte sind vielfältig und müssen immer im Kontext betrachtet werden. Kinder sind heute mit vielen Themen konfrontiert, die früher nicht in diesem Ausmaß vorhanden waren, wie etwa Mobbing, Cyber-Mobbing, zunehmende Gewalt oder intensiver Medienkonsum. Darüber hinaus hat sich der Erziehungsstil stark verändert. Noch vor nicht allzu langer Zeit war Widerspruch gegenüber Eltern und Lehrkräften keine Option. Heute wollen wir selbstständige Kinder, die selbstbewusst auftreten und sich eine (kritische) Meinung bilden können. Sehr häufig fehlen Kindern und Jugendlichen aber auf der anderen Seite klare Grenzen und Strukturen. Dann haben sie Schwierigkeiten, sich in dem Dickicht von Informationen und Anforderungen, mit denen sie konfrontiert werden, zu orientieren.
Lehrkräfte beklagen häufig, dass sie von den Schülerinnen und Schülern nicht als Autoritäten wahrgenommen bzw. überhaupt respektiert werden. Wie ist Ihre Wahrnehmung?
Wenn die Kinder keine Grundmanieren vom Elternhaus mitbekommen, kann das schon problematisch sein. Allerdings erleben wir in den Mediationen auch oft, dass Kinder ihr Verhalten gar nicht als respektlos empfinden. Wir hatten beispielsweise einen Schüler, der einem Lehrer so häufig widersprochen hatte, dass aus der Sicht des Lehrers ein sinnvoller Unterricht nicht mehr möglich war. Durch einen entsprechenden Dialog mit beiden Beteiligten konnte erreicht werden, dass der Schüler erkannte, warum der Lehrer sein Verhalten als Respektlosigkeit interpretierte, und der Lehrer sah, dass das Benehmen des Schülers keineswegs nur despektierlich gemeint war. Das Problem muss auf der Beziehungsebene gelöst werden, denn wenn schon ein Konflikt da ist, kann dieser das Gegenüber sehr schnell triggern.
In einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gaben 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler österreichischer Schulen an, kürzlich gemobbt worden zu sein. Welche Erfahrungen haben Sie damit?
Mobbing und Cybermobbing nehmen deutlich zu. Schon in einer älteren Studie wurde erhoben, dass jeder zehne Mitschüler regelmäßig verbal beschimpft oder körperlich attackiert wurde. Mobbing ist die häufigste Gewaltform an Schulen. In solchen Fällen ist es wichtig, dass sich das betroffene Kind an eine Vertrauenslehrkraft in der Schule wenden kann. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es in vielen Schulen ein Bewusstsein dafür gibt und auch viele Lehrkräfte dafür schon gut geschult sind.
Das Kind könnte aber auch zu Hause plötzlich scheinbar unerklärliche Auffälligkeiten zeigen…
Ja, etwa Probleme mit den Geschwistern, Aggressivität oder gestörtes Essverhalten. Dann sollten die Eltern nachfragen. Stellt sich heraus, dass das Kind gemobbt wird, nicht in Panik geraten, sondern dem Kind Sicherheit vermitteln, gut zuhören und klarmachen, dass es selbst in Ordnung ist und die „Mobber“ falsch handeln. Wenn das Kind regelmäßig und über einen längeren Zeitraum hinweg einem hohen Leidensdruck ausgesetzt ist, sollte ebenfalls das Gespräch mit der Schule gesucht werden.
Was tun bei Cyber-Mobbing?
Immer häufiger werden Kinder und Jugendliche auch über soziale Netzwerke wie Facebook und Co. gemobbt. Von Cyber-Mobbing spricht man dann, wenn jemand im Internet oder über das Handy absichtlich bzw. bewusst beleidigt, bloßgestellt oder bedroht wird. Das kann von schikanösen E-Mails über sexuelle Kompromittierungen bis hin zu Nacktfotos im Netz reichen. Häufig bewegen sich diese schon im strafrechtlichen Bereich, ohne dass das dem Versender oder der Versenderin überhaupt klar ist. In den sozialen Medien bekommt das eine Dynamik, die die Kinder nicht mehr kontrollieren können. Diese Dynamik rückgängig zu machen, ist erfahrungsgemäß äußerst schwierig. Meiner Meinung nach fällt der Umgang mit diesen Medien in die Obsorge der Eltern und sollte von ihnen beobachtet werden. Die Schule hat nur eingeschränkte Möglichkeiten, auf Cyber-Mobbing zu reagieren.
Wieso ist Mobbing übehaupt so weit verbreitet?
Oft ist ein familiärer Hintergrund mit eine Ursache. Auch Gruppendynamiken können eine Rolle spielen. Diese aufzuspüren und die Negativspirale aufzubrechen, kann Mediation leisten. Deshalb ist es so wichtig, präventive Maßnahmen zu setzen.
Welche wären das?
Schülerinnen und Schüler werden selbst zu Mediatoren ausgebildet und lernen, mit diesen Konfliktthemen umzugehen. Es gibt bereits Schulen mit „cultural tutors“, wo also Gleichaltrige von anderen Gleichaltrigen lernen. In der Praxis hat man damit gute Erfolge, weil es oft einfacher ist, zu einem Gleichaltrigen zu gehen und seine Probleme mit diesem zu besprechen.
Präventive Maßnahmen sind im Vorfeld mit Kosten verbunden. Wie kann man das durchsetzen?
Wenn man sich Hilfe sucht – ob Eltern, Lehrende oder Kinder – muss man sich zuerst eingestehen, dass man gescheitert ist und einen Konflikt selbst nicht lösen konnte. Damit muss man sich auch der Möglichkeit stellen, eventuell einen Fehler begangen oder etwas nicht bewältigt zu haben. Es muss das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass Konflikte potenziell immer vorhanden sind, wo Menschen miteinander zu tun haben. Der Entschluss, sich einen Experten oder ein Team zu holen, ist daher auf jeden Fall weise. Oft ist auch der Schulpsychologe bzw. die Schulpsychologin die erste Ansprechperson. Die Schwierigkeit in der Praxis ist, dass das alles einen erheblichen administrativen Aufwand bedeutet, der auch viel Zeit in Anspruch nimmt. Und das an einem Punkt, wo man in der Schule ja bereits mit einer Eskalation konfrontiert ist. Prävention bedeutet, Kosten aufzuwenden, bevor der Bedarf überhaupt vorhanden ist.
Viele Eltern beklagen, dass ihre Kinder den Lernstoff in der Schule nicht ausreichend vermittelt bekommen und daher zu Hause nachgelernt bzw. Nachhilfe in Anspruch genommen werden muss…
Auch hier kann Mediation den Dialog fördern. Es kann unterschiedliche Gründe haben, warum die Lehrkraft mit dem Stoff nicht durchkommt, z. B. weil eine Klasse sozial besonders herausfordernd ist. Für die Lehrkraft sind so viele andere Themen zu bearbeiten, dass ein Teil des Lehrstoffs auf der Strecke bleibt. Dann sollte man sich die Frage stellen, warum das in dieser Klasse so schwierig ist. Besteht ein individueller Förderbedarf für ein Kind oder mehrere Kinder oder liegt es an der Klasse per se. Es gibt hier keine Pauschal- oder Patentlösungen. Der Dialog eröffnet die Möglichkeit einer Wendung und kann die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülern verbessern. Wenn diese Beziehung wieder passt, kann eine Veränderung bewirkt werden.
Wie viel Beziehungsarbeit dürfen oder sollen Lehrkräfte leisten?
Sicher müssen Lehrkräfte eine gewisse Erziehungsarbeit machen. Das wird dazu führen, dass ein Teil der Eltern das als Unterstützung empfindet, andere werden sich in ihrer elterlichen Kompetenz hinterfragt fühlen. Man muss bedenken, da sind ein Kind und zwei Elternteile, und die Lehrperson weiß nicht, welche Haltung sie einnehmen. Die Lehrkraft hat 25 bis 30 Kinder und ist mit den unterschiedlichsten Erwartungshaltungen konfrontiert. Die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, ist der Dialog. Die Schwierigkeit ist, dass dieser Dialog Zeit erfordert. Und das mit 25 bis 30 Elternpaaren! Dennoch ist das Miteinanderreden aus meiner Sicht extrem wichtig. Es gilt, Konflikte abzufangen bevor sie eskalieren.
Wie können die Beteiligten aufeinander zugehen?
Vorwürfe und Gegenvorwürfe sind nutzlos. Wenn jeder eine passive Rolle einnimmt und sich nicht bewegt, wird sich auch nichts bewegen. Gegenseitige Vorwürfe produzieren ausschließlich Rechtfertigungen. Es gibt dann nur Angriff und Verteidigung. Jeder muss sich daher die Frage stellen, ob er oder sie bereit ist, eine aktive Rolle einzunehmen. Mediation kann Brücken bauen. Wo eine Kommunikation nicht mehr möglich scheint, kann Mediation Verständnis füreinander aufbauen, indem man fragt, wie es dem jeweiligen Gegenüber geht. Freiwilligkeit hat etwas mit der Haltung zu tun. Mediation kann dann fruchtbringend sein, wenn alle Beteiligten etwas zum Besseren verändern wollen. Nur dann können sich verhärtete Fronten wieder auflösen. Und das sollte im Interesse aller – vor allem in jenem unserer Kinder – und im Fokus stehen.
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